Schein­bar „tat­säch­lich“, tat­säch­lich „recht­lich“

Eine zusam­men­fas­sen­de Dar­stel­lung zu BGH, Urteil vom 14.02.2019 – IX ZR 181/17.

I.  Streit­ge­gen­stand

Der Aus­gangs­sach­ver­halt ist schnell erzählt: Der Arbeit­ge­ber der Klä­ge­rin erklär­te mit Schrei­ben vom 22.12.2011 die außer­or­dent­li­che Kün­di­gung des Arbeits­ver­hält­nis­ses. Das Kün­di­gungs­schrei­ben wur­de am sel­ben Tag per Boten und ent­spre­chen­dem Ver­merk in den Brief­kas­ten der Klä­ge­rin ein­ge­wor­fen. Anfang Janu­ar 2012 such­te der Ehe­mann der Klä­ge­rin den beklag­ten Rechts­an­walt auf und beauf­trag­te ihn namens sei­ner Ehe­frau, eine Kün­di­gungs­schutz­kla­ge zu erhe­ben. Er leg­te ihm das Kün­di­gungs­schrei­ben vor und erklär­te, die­ses sei am 23.12.2011 zuge­stellt wor­den. Aus­ge­hend von die­sem Datum reich­te der Beklag­te, ver­meint­lich noch frist­ge­recht, am 13.01.2012 Kla­ge beim Arbeits­ge­richt ein. Nach­dem der Beklag­te einen Ver­gleich auf Zah­lung eines Abfin­dungs­be­tra­ges wider­ru­fen hat­te, wur­de die Kla­ge abge­wie­sen, weil bei tat­säch­li­chem Zugang des Kün­di­gungs­schrei­bens am 22.12.2021 die drei­wö­chi­ge Kla­ge­frist aus § 13 Abs. 1 S. 2, § 4 S. 1 KSchG bereits abge­lau­fen gewe­sen war. Nach­dem die Beru­fung der Klä­ge­rin erfolg­los geblie­ben war, nahm sie ihren vor­ma­li­gen Pro­zess­be­voll­mäch­tig­ten zunächst auf Erstat­tung des Ver­gleichs­be­tra­ges und der Kos­ten des Beru­fungs­ver­fah­rens in Anspruch, weil er den Ver­gleich pflicht­wid­rig wider­ru­fen hät­te. Die Kla­ge wur­de abge­wie­sen, die Beru­fung spä­ter zurück­ge­nom­men.

II.  Vor­in­stan­zen

Mit einer neu­er­li­chen Kla­ge vor dem LG Ham­burg for­der­te die Klä­ge­rin sodann die Erstat­tung von Ver­dienst­aus­fall in Höhe von 25.770,22 EUR und begrün­de­te dies mit der ver­spä­te­ten Kün­di­gungs­schutz­kla­ge.

Die Kla­ge wur­de als unzu­läs­sig abge­wie­sen und auch die Beru­fung vor dem OLG Ham­burg schei­ter­te. Der beklag­te Rechts­an­walt hät­te sich – so das OLG – auf die Anga­be des Ehe­manns zum Zeit­punkt der Zustel­lung des Kün­di­gungs­schrei­bens ver­las­sen dür­fen, weil es sich inso­weit um eine Tat­sa­chen­an­ga­be gehan­delt hät­te, auf deren Rich­tig­keit der Rechts­an­walt hät­te ver­trau­en dür­fen.

III.  Die Ent­schei­dung des BGH

Letz­te­res bewer­te­te der BGH anders. Der Rechts­an­walt hät­te die Pflicht zur rich­ti­gen und voll­stän­di­gen Bera­tung und müs­se durch Befra­gung sei­nes Man­dan­ten den Sach­ver­halt auf­klä­ren, auf den es für die recht­li­che Bera­tung ankom­me. Auf die Rich­tig­keit tat­säch­li­cher Anga­ben sei­nes Man­dan­ten dür­fe der Rechts­an­walt inso­weit ver­trau­en, als er die Unrich­tig­keit weder erken­ne noch erken­nen müs­se. Die­se Aus­nah­me gel­te aber nicht im Hin­blick auf Infor­ma­tio­nen, die nur schein­bar tat­säch­li­cher Natur sei­en. Anga­ben zum Zugang einer Kün­di­gung sei­en nicht tat­säch­li­cher Natur, son­dern soge­nann­te Recht­s­tat­sa­chen, weil der im (Kündigungsschutz)Gesetz ver­wen­de­te Begriff des Zugangs recht­lich bestimmt wür­de, näm­lich danach, wann eine Wil­lens­er­klä­rung in den Macht­be­reich des Emp­fän­gers gelangt sei, wann die­ser die Mög­lich­keit gehabt hät­te, von deren Inhalt Kennt­nis zu neh­men etc. Vor die­sem Hin­ter­grund hät­te der Rechts­an­walt bei einem auf den 22.12.2011 datier­ten Kün­di­gungs­schrei­ben – trotz der Anga­be des Ehe­manns – nicht unge­prüft von einer Zustel­lung am 23.12.2011 aus­ge­hen dür­fen, son­dern hät­te den sichers­ten Weg wäh­len und die Kün­di­gungs­schutz­kla­ge des­halb spä­tes­tens am 12.01.2012 ein­rei­chen müs­sen. Denn der Rechts­an­walt hät­te nicht davon aus­ge­hen dür­fen, dass dem Ehe­mann der Klä­ge­rin die Kri­te­ri­en, die für den Zugang einer Wil­lens­er­klä­rung (recht­lich) maß­geb­lich sind, bewusst waren. Er hät­te sich statt­des­sen durch Nach­fra­gen Klar­heit ver­schaf­fen müs­sen.

Einen Rie­gel schob der BGH zudem der Argu­men­ta­ti­on des OLG vor, die Beru­fung sei auch des­halb zurück­zu­wei­sen, weil die Klä­ge­rin nicht schlüs­sig vor­ge­tra­gen hät­te, dass die unter­stell­te Pflicht­ver­let­zung des Rechts­an­walts deren Scha­den ver­ur­sacht hät­te, weil sie nicht dar­ge­legt hät­te, was dem Beklag­ten bei hypo­the­ti­scher Nach­fra­ge zum Zugang des Kün­di­gungs­schrei­bens denn geant­wor­tet wor­den wäre. Das Beru­fungs­ge­richt hät­te der Klä­ge­rin näm­lich durch einen ent­spre­chen­den Hin­weis Gele­gen­heit geben müs­sen, zu die­sem Punkt sub­stan­ti­iert vor­zu­tra­gen. Dadurch dass dies unter­blie­ben sei, hät­te das Beru­fungs­ge­richt den Anspruch auf recht­li­ches Gehör ver­letzt.

Ass. jur. Rudolf Bau­er,

LL.M. Ver­si­che­rungs­recht